ÖV-Wachstum: Wunsch und Wirklichkeit
Kanton, Region (Regionalkonferenz Bern-Mittelland RKBM) und Stadt Bern sind sich einig: Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs MIV am Gesamtverkehr in der Kernagglomeration Bern soll bis 2040 deutlich reduziert werden – zugunsten höherer Anteile des ÖV sowie des Fuss- und Veloverkehrs.
Die RKBM-Studie "Weiterentwicklung Regionales Tramkonzept" aus dem Jahr 2013 rechnete mit einer massiven Zunahme des DWV (durchschnittlicher Werktagsverkehr) auf den ins Stadtzentrum führenden Tram- und Hauptbuslinien: +58% im Zeitraum 2011-2030. Starkes ÖV-Wachstum im Zeitraum 2016-2040 prognostizierten im Jahr 2019 auch das Gesamtverkehrsmodell des Kantons sowie die Mobilitätsstrategie 2040 der RKBM, die für den Sektor Stadt Bern mit einer Steigerung der ÖV-Nachfrage um 60% zu rechnet.
Die Ende 2020 verabschiedete "Netzstrategie ÖV 2040 Kernagglomeration Bern" der RKBM baut auf diesen Prognosen auf – sie geht von einem Wachstum der DSB (durchschnittliche Spitzenstundenbelastung in Lastrichtung) auf den ins Stadtzentrum führenden Tram- und Hauptbuslinien um 61% im Zeitraum 2019- 2040 aus. Zur Bewältigung dieser Zunahme propagiert die "Netzstrategie 2040" einen massiven Ausbau des Tramliniennetzes: Bis 2040 sollen 7 statt der heutigen 4 Tram-Durchmesserlinien über den Bahnhofplatz führen – drei neu via Bollwerk und weiterhin vier via Spital-/Marktgasse (s. Abb. 1). Insgesamt wären gut 20 km neue Tram-Trassen zu erstellen – Kostenpunkt mehr als 1 Milliarde Franken. Handkehrum würde das Netz der Hauptbuslinien reduziert.
Ambitiöse ÖV-Wachstumsziele in Ehren, doch die Realität sieht anders aus: Im Zeitraum 2011-2019 (Wirtschaftsblütephase vor Corona) haben auf den ins Stadtzentrum führenden Tram- und Hauptbuslinien der DWV um nur 2.0% und die DSB (durchschnitt-liche Spitzenstundenbelastung in Lastrichtung) um nur 4.4% zugenommen. Corona bescherte dem ÖV danach einen massiven Einbruch der Nachfrage – ein Jahr nach Aufhebung aller Schutzmassnahmen liegen die Fahrgastzahlen immer noch unter den Vor-Corona-Werten. Wunsch und Wirklichkeit in der Entwicklung der Fahrgastzahlen im ÖV driften also massiv auseinander.
Die soeben publizierte Aktualisierung des Gesamtverkehrsmodells Kanton Bern rechnet denn auch für den Zeitraum 2019-2040 nur noch mit knapp 20% ÖV-Wachstum gesamtkantonal. In der bereits heute sehr gut ÖV-bedienten Kernagglomeration Bern dürfte der Ortsverkehr kaum überdurchschnittlich stark zulegen – die 61% der "Netzstrategie 2040" sind klar unrealistisch.
Tram oder Bus?
Das Verkehrsmittel Tram wies bis vor wenigen Jahren zahlreiche Vorteile gegenüber dem Verkehrsmittel Bus auf. Mittlerweile hat der Bus jedoch markant aufgeholt (v.a. Kapazität, Umweltverträg-lichkeit) – in wichtigen Bereichen weist er sogar klare Vorteile auf (v.a. Stadtraumverträglichkeit, betriebliche Flexibilität).
Zwei kürzlich durchgeführte ZMB (Zweckmässigkeitsbeurteilungen) haben ergeben, dass für die in der RKBM-Netzstrategie propagier-ten Tramlinienäste Wyler und Insel noch auf längere Sicht kein Bedarf besteht. In der öffentlichen Mitwirkung stiess zudem das Vorhaben einer Tramlinie in der Länggasse auf breite Ablehnung, weshalb auch dieser ÖV-Korridor weiterhin per Bus bedient werden wird. Kurz nach Verabschiedung der "Netzstrategie 2040" sind also bereits drei Schlüsselelemente nicht mehr aktuell, was die Planung mit einer zweiten Tramachse auf dem Bubenberg-/Bahnhofplatz (Fortsetzung übers Bollwerk) noch verstärkt in Frage stellt.
Das Tram(künftig durchwegs ca. 42m lange Gefährte) ist nur sinnvoll auf längeren Strecken und da wo ein DWV von über 15'000 erreichbar ist. Anderseits vermag auch eine Doppelgelenkbuslinie einen DWV von weit über 20'000 zu bewältigen. Aus betrieblicher Sicht gilt es zudem die Proportionen zwischen Tram- und Bus-Fahrzeugpark zu beachten; denn gerade in Bern ist oft ein Tramersatzbetrieb notwendig.
Die "Netzalternative ÖV 2045 Kernagglomeration Bern"
Als Reaktion auf die stark kritisierte Netzstrategie 2040 wurde auf private Initiative hin die "Netzalternative ÖV 2045 Kernagglomeration Bern" entworfen und erstmals im Juni 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt.
Die "Netzalternative 2045" hat den Anspruch, deutlich zweck-mässiger und realistischer als die "Netzstrategie 2040" zu sein:
- bedarfsgerechter (angemessene Gefässgrössen, attraktiverer Takt)
- stadtverträglicher (grosses stadträumliches Aufwertungspotenzial, weniger Verkehrskonflikte)
- betrieblich flexibler (bei Betriebsstörungen, Events, Bauarbeiten)
- wirtschaftlicher (niedrigere Infrastruktur- und Betriebskosten)
- leichter umsetzbar (logisch etappierbar, weniger Hindernisse)
Die "Netzalternative 2045" begnügt sich mit nur 8 statt über 20 km neuen Tramtrassen – vier starke Tram-Durchmesserlinien (s. Abb. 3) bilden das Rückgrat des Ortsverkehrs. Alle anderen Transport-bedürfnisse lassen sich auch längerfristig problemlos mittels Bus abdecken (Gelenk- oder Doppelgelenkbus – durchwegs Trolley- oder Batteriebetrieb, also bez. Umweltbelastung kein Nachteil gegenüber Tram).
Kapazitätsmässig entspricht die "Netzalternative 2045" insgesamt weitgehend der "Netzstrategie 2040". Sollten (entgegen dem aktuellen Trend) die Fahrgastzahlen stark steigen, wird also die "Netzalternative 2045" auch in den Spitzenstunden nicht zu Kapazitätsengpässen führen. Längerfristig bleiben Taktverdichtungen möglich.
Zweite Tramachse via Bundes-/Kochergasse
Ein Kernelement der "Netzalternative 2045" stellt die zweite Tramachse via Bundes-/Kochergasse dar, welche bereits in der ZMB "Zweite Tramachse" 2012 eingehend studiert und als technisch machbar beurteilt wurde, in der damaligen Variantenbewertung aber – sachlich schwer nachvollziehbar – nur auf Platz drei landete.
Die "Netzalternative 2045" erfüllt die anlässlich der ZMB 2012 genannten zwei Hauptziele einer zweiten Tramachse (Entlastung der oberen Altstadt und Erhöhung der Netzredundanz) klar besser als die "Netzstrategie 2040", die weiterhin 4 Tramlinien in Spital-/Marktgasse vorsieht – ohne Ausweichmöglichkeit.
Die zweite Tramachse via Bundes-/Kochergasse ermöglicht eine massive Entlastung und Aufwertung der Achse Hirschengraben–Bubenberg-/Bahnhofplatz–Spital-/Marktgasse–Zytglogge–Theater-/Casinoplatz – ganz im Sinne des UNESCO-Weltkulturerbes. Und indem bei der "Netzalternative 2045" die Verkehrsachse Bubenberg-/Bahnhofplatz Nord–Bollwerk keinen Tram- und nur wenig mehr Busverkehr aufnehmen muss, kann das unmittelbare Bahnhofumfeld stadträumlich markant aufgewertet werden und der Bau einer 35 Millionen teuren Personenunterführung Bubenberg erübrigt sich.
Die "Netzalternative 2045" geht von einer Entwicklung des Berner Tramnetzes in Etappen aus. In einer ersten Etappe (bereits 2024?) soll, der in jeder Hinsicht unzweckmässige Tramlinienast Fischermätteli auf Busbetrieb mit attraktiverem Takt umgestellt werden. Das wurde bereits die RKBM-Studie "Weiterentwicklung Regionales Tramkonzept" 2013 so empfohlen. Durch die Integration in die Weiermatt-Buslinie lässt sich sehr viel Geld sparen und die Haltestelle Hirschengraben schon kurzfristig entlasten.
Für das Ostermundigen-Tram (Etappe 2: ca. 2029 ) wird in Abweichung zur bisherigen Planung die deutlich zweckmässigere, stadtverträglichere und kostengünstigere Führung via Guisanplatz empfohlen.
Als Etappe 3 (ca. 2033) sieht die "Netzalternative 2045" die Inbetriebnahme der Zweiten Tramachse via Bundes-/Kochergasse vor. Im Bereich des Bundeshauses kommt nur ein fahrleitungsfreier Trambetrieb in Frage. Das ist heute technisch problemlos möglich und weit preisgünstiger zu haben als zu Zeiten der ZMB 2012. Die drei neuen Tramhaltestellen in Bundes-/Kochergasse haben leicht längere Umsteigewege zur Folge; das wird jedoch durch eine aus Kundensicht durch Fahrzeitverkürzungen und den kürzeren Takt zeitlich mehr als ausgeglichen.
FAZIT
Im Vergleich zur "Netzstrategie 2040" erscheint die "Netzalternative 2045" als ganzheitliches und zweckmässiges Konzept, welches eine bedarfsgerechte, wirtschaftlich tragbare Weiterentwicklung des Berner Tram- und Busnetzes gewährleistet und gleichzeitig eine markante Aufwertung der Strassen- und Platzräume im Stadtzentrum ermöglicht.
Die Planer-Fachverbände der Stadt Bern sehen deshalb in der "Netzalternative 2045" ein sehr grosses Potential für die Stadt Bern. Mit der gemeinsamen Plattform «Forum öffentlicher Raum» FÖR-Bern.ch unterstützen sie diese Lösung durch eine breite Information zum Thema ÖV und Stadtraum Bahnhof. Dazu dient auch die vorliegende Präsentation des Vorschlags «Netzalternative 2045» auf Basis des im Juni 2022 erstellten Berichts von Pierre Pestalozzi.
Die ausführliche verkehrstechnische Version des Vorschlags von Pierre Pestalozzi finden Sie hier: Original Dokument